Selbstversorgung mit Gemüse und Obst im städtischen Umfeld – aus pflanzenbaulicher Perspektive
Von Dr. rer. agr. Brunhilde Bross-Burkhardt
(Dieser von der Schweizer Zeitschrift "Natürlich" bestellte Artikel wurde nicht veröffentlicht. Deshalb veröffentliche ich den Originalartikel hier in meinem Blog.)
Möhren und Erdbeeren
frisch aus dem Garten – weitgehende Selbstversorgung mit Gemüse und Obst
streben viele Menschen auf dem Land und in der Stadt an. Auf einem Grundstück
am Haus ist dies leicht zu verwirklichen. Städter müssen sich etwas einfallen
lassen. Sie wirtschaften in Familiengärten und neuerdings auch in
Urban-Gardening-Projekten. Die Szene ist bunt und vielfältig. Eine
Agrarwissenschaftlerin betrachtet einige Initiativen aus pflanzenbaulicher Perspektive.
Die Prinzessinnengärten in Berlin
sind bekannt für ihren Containeranbau in ausgedienten Brotkisten und Reissäcken mit
Bewässerung. Der Gemeinschaftsgarten heißt so, weil das Grundstück an der
Prinzessinnenstraße liegt. Foto: B. Bross-Burkhardt
Was ist Urban Gardening?
Genau genommen sind
alle Anbauformen in einem städtischen Umfeld urbanes Gärtnern, also auch
traditionelle Familiengärten (Kleingärten, Schrebergärten), Balkongärten oder
Dachgärten. Doch der englische Begriff „Urban Gardening“, der in den deutschen
Sprachgebrauch eingegangen ist, hat durch die vielen Veröffentlichungen in den
Medien einen anderen Anklang und bezieht sich vor allem auf neue Modelle des
Gärtnerns, vor allem des Nutzpflanzenanbaus, in der Stadt. Diese heben sich vom
individuellen, manchmal als spießig empfundenen Gärtnern im Familiengarten beziehungsweise Kleingarten ab – vom Guerilla-Gardening mit dem Werfen von Samenbomben über
Gemeinschaftsgärten bis hin zu kommerziellen Urban-Agriculture-Projekten wie
Aquaponic und Indoor-Farming.
Modell 1: Selbsterntegärten / Mietgärten
Einen einfachen
Einstieg in den eigenen Gemüseanbau ermöglichen Selbsterntegärten, die manche
Anbieter auch als Mietgärten oder Saisongärten bezeichnen. Es handelt sich
dabei um Ackerparzellen, die Landwirte und Gärtner, manchmal auch Kommunen,
Nutzern für eine Saison vermieten. In Deutschland ist die Nachfrage nach
solchen Gärten groß. Mietgärten sind die ideale und günstige Lösung für alle,
die erst einmal Erfahrungen mit dem Gemüseanbau sammeln und sich nicht
längerfristig wie in einem Kleingarten festlegen wollen. Die Mietgärten liegen
meist in Randbezirken von Städten im Übergang zum Land.
Es ist eine Kombination
aus Profianbau und individuellem Anbau. Die Profis bearbeiten den Boden
maschinell und bestellen das Land in Reihen mit einer Auswahl gängiger oder
auch seltener Gemüsearten und –sorten. Anschließend teilen sie es quer zum
Reihenverlauf in Parzellen von etwa 20 bis 60 Quadratmeter Größe auf. Die
Parzelle kann auch Teil eines Rundbeets oder eines Kartoffeldammstreifens sein.
Die Nutzer mieten die Parzelle vom Frühjahr bis zum Spätherbst. Sie übernehmen
die laufenden Arbeiten; hacken, gießen und ernten das Gemüse, säen und pflanzen
eventuell Nachkulturen. Die Betreiber stellen die Infrastruktur zur
Bewirtschaftung, also Geräte, Wasser, Kompost usw., zur Verfügung.
Interessenten finden im Internet Standorte in der Nähe ihrer Wohnung und können gleich eine Parzelle buchen
– bei den „Ackerhelden“ (www.ackerhelden.de), bei „Bauerngarten“ in Berlin
(www.bauerngarten.net) oder „Krautgärten“ in München (http://urbane-gaerten-muenchen.de)
und etlichen anderen Anbietern.
Modell 2: Regionale Vertragslandwirtschaft
Dies ist ein ähnliches
Stadt-Land-Modell, bei dem LandwirtInnen und KonsumentInnen zusammenarbeiten.
Landwirte und Gleichgesinnte, die die regionale Lebensmittelversorgung fördern
wollen, schließen sich zu Genossenschaften zusammen. Sie pachten Land am Rand
von Städten und stellen ausgebildete Landwirte oder Gärtner ein, die sich um
einen arten- und sortenreichen Anbau von Gemüse kümmern. Am Anfang des Jahres
verkauft die Genossenschaft Abos oder Anteilscheine für Gemüselieferungen
während der Saison und sichert so den Absatz. Die Abonnenten oder
Genossenschafter sind sichere Abnehmer für die Ernte, sie tragen das Risiko bei
Fehlernten mit. Mit dem Gemüseabo verpflichten sie sich zur Mithilfe auf dem
Acker. Eine dieser Initiativen ist die Anbaugemeinschaft für eigenes Gemüse an
Zürichs Stadtrand (www.dunkelhoelzli.ch), die etwa 30 Ar Ackerflächen und etwas
Obst- und Beerenland bewirtschaftet. Folienhäuser für etwa 30 Tomatensorten
gibt es auch. Oder die regionale Gartenkooperative Ortoloco in Dietikon
(www.ortoloco.ch), die einen 1,4 Hektar großen Acker bewirtschaftet.
Modell 3: Gemeinschaftsgärten, Nachbarschaftsgärten
Viel Aufsehen erregen
Initiativen, die brach liegende Freiflächen im Stadtbereich in
Gemeinschaftsgärten umwandeln. Eine europäische Hochburg solcher Projekte, die
sich aufs Allmende-Prinzip berufen, ist Berlin. Die besondere Situation dieser
Stadt macht es möglich: Anders als in anderen dicht bebauten Großstädten, wie
zum Beispiel Zürich oder Stuttgart, gibt es hier sehr viele Brachflächen, die
kreative Ideen für eine sinnvolle Nutzung geradezu herausfordern. Ein bekanntes
Berliner Projekt ist der Garten Rosa Rose (www.rosarose-garten.net), bei dem
tatsächlich die Flächen gemeinsam gepflegt werden. So wird es auch in Basel im Permakulturgarten Landhof (www.permakultur.ch/index.php/projekte/landhofbaselgarten)
gehandhabt. Teilweise funktioniert das offenbar ganz gut, bei anderen weniger,
weil eben nicht alle Beteiligten gleich viel zur Pflege des Gartens beitragen.
Einige Projekte kombinieren Gemeinschaftsteile und individuell bewirtschaftete
Beete, zum Beispiel der Nachbarschaftsgarten TonSteineGärten in Berlin (http://gaerten-am-mariannenplatz.blogspot.de/).
Modell 4: Mobile Gärten, Quartiergärten als Zwischennutzung
Viele
Urban-Gardening-Projekte machen durch Kisten und Behältnisse aller Art auf sich
aufmerksam. – Spektakulär in Szene gesetzt im Berliner Prinzessinnengärten mit
ausrangierten Brotkisten aus Kunststoff, alten Reissäcken oder aufgeschlitzten
Tetrapackbehältern (http://prinzessinnengarten.net/). Warum nicht? In diesem
anbautechnisch ausgeklügelten Vorzeigeprojekt wächst tatsächlich viel Gemüse
heran, das im Freiluftrestaurant zu schmackhaften Gerichten zubereitet wird.
Überschüssiges wird verkauft. Auf dem Tempelhofer Feld, am Rand des
stillgelegten Flughafens Tempelhof mitten in Berlin, sieht es mit windschief
gezimmerten Holzkonstruktionen aus wie Villa Kunterbunt. Mais, Schmuckkörbchen
und Sonnenblumen ragen neben allerlei Sitzmöbeln in den weiten Himmel (http://www.tempelhoferfreiheit.de/).
Demgegenüber hat der
mobile Gemeinschaftsgarten im Zürcher Stadiongarten (www.stadiongarten.ch) mit
schmucken Holzcontainern eine überschaubare Dimension. Die Fläche steht vor dem
Bau des neuen Stadions für die Zwischennutzung zur Verfügung. Ebenfalls um
Zwischennutzung vor einer Überbauung geht es bei dem Projekt Tramdepot
Burgernziel in Bern. Der Verein Stadtbuure in Winterthur greift die
Urban-Gardening-Idee mit der charmanten Einkaufswägeli-Aktion und
Palettengärten auf (www.winterthur-nachhaltig.ch).
Viele Kommunen
initiieren mittlerweile selbst die Projekte und stellen Personal und Geld dafür
bereit, weil sie die vielen positiven Effekte von Urban Gardening fürs soziale
Miteinander sehen und ebenso die Biodiversität fördern wollen.
Modell 5: Urban Gardening gegen Entvölkerung
In manchen Fällen ist
nicht Mangel an Land Anlass für ein Urban-Gardening-Projekt, sondern ein
Überfluss davon. Mitten in Deutschland, in der sich entvölkernden Stadt
Dessau-Rosslau geht es darum, das Brachfallen von Gelände zu verhindern. Hier
ist die Situation ähnlich wie in Detroit, wo durch den enormen Bevölkerungsrückgang
von 2 Millionen auf unter 700 000 Einwohner weite Teile der Stadt brach fielen.
Um dem Bevölkerungsverlust in der eigenen Stadt entgegen zu wirken, überlässt
Dessau 20 x 20-m-Parzellen deshalb kostenlos an "Paten" zur Bewirtschaftung.
Modell 6: Essbare Stadt, Bürgergärten
Ernten, was andere
anbauen, ohne etwas dafür tun zu müssen – das mutet wie im Schlaraffenland an.
Andernach an der Mosel hat dieses Prinzip der „Essbaren Stadt“ publik gemacht
(www.andernach.de). Andere Städte eifern dem nach. Anstelle von Rosen und
Sommerblumen stehen hier Stangenbohnen, Zwiebeln, Mangold und Kürbis auf
städtischem Grund. Weinreben und Spaliergehölze, Feigen und Mandeln ebenso. Von
diesem Modell profitieren Stadt und Bürger: Die Stadt, weil sie für Anlage und
Pflege der Gemüsebeete weniger ausgeben muss als für Zierpflanzenbeete und ganz
nebenbei sehr viel fürs Stadtimage tut. Und die Bürger, weil sie sich kostenlos
bedienen können.
Modell 7: Urban Agriculture
In dicht besiedelten
asiatischen Megacities hat sich Urban Agriculture zur Versorgung der
Stadtbevölkerung mit Nahrungsmitteln etabliert. In Mitteleuropa gibt es erst
vereinzelt Projekte wie das Aquaponic-Farm-System. Es handelt sich dabei um
eine Kombination aus Aquakultur von Fischen (meist sind es Tilapia-Barsche) und
in Hydrokultur angebautem Gemüse wie Tomaten und Salate. Die Idee ist, die in
der Farm erzeugten Fische und das Gemüse ohne Zwischenhandel und Transportwege
direkt an das städtische Kaufpublikum zu vertreiben. In dem nahezu
geschlossenen System wird das mit Nährstoffen aus den Fischexkrementen
angereicherte und aufbereitete Wasser aus der Aquakultur zur Düngung der Gemüse
ins Hydrokultursystem gepumpt. Das im Gewächshaus verdunstete Wasser wird über
Kältefallen zurückgewonnen und wieder der Aquakultur zugeführt. Die erste
derartige kommerzielle Anlage Europas steht im Basler Dreispitzareal auf dem
Dach des ehemaligen Lokdepots.
Wie Aquaponic
funktioniert, zeigt die UrbanFarmersBox. Der ausrangierte Schiffscontainer mit
Gewächshausaufbau steht in Winterthur (http://winterthur-nachhaltig.ch/stadtbuure/).
Das Pendant in Berlin heißt Containerfarm oder schlicht Rostlaube (http://www.ecf-farmsystems.com/).))
„Urban Gardening“ – darauf kommt's an
Die Besitz- und
Organisationsstruktur der Urban-Gardening-Projekte ist das eine. Der
tatsächliche Anbau und die möglichst gute Ernte von Nutzpflanzen das
wesentliche andere. Was verspricht mehr Erfolg: Das Gärtnern in gewachsener
Erde oder im Container? Gewachsene Erde ist immer besser und bringt sicheren
Ertrag, wenn man sich an die gartenbaulichen Regeln hält (und die Schnecken
nicht alles abraspeln). Also sonnigen Platz wählen, Boden gut vorbereiten,
Gemüse und Kräuter in weitem Abstand säen oder pflanzen und darauf achten, dass
die Konkurrenz durch Wildkräuter nicht zu groß wird. Auftretende Probleme mit
Schädlings- und Krankheitsbefall, Wasser- und Nährstoffversorgung darf man
nicht unterschätzen.
Noch mehr
Aufmerksamkeit und Fingerspitzengefühl verlangt der Anbau in Kisten oder in
Hochbeeten. Hier kommt es besonders auf die gleichmäßige Wasserversorgung
eventuell mit Hilfe einer automatischen Bewässerung an, denn die Gemüsepflanzen
oder die Obstgehölze haben nur einen begrenzten Wurzelraum. Anders als in
gewachsener Erde können die Kulturpflanzen mit ihren Wurzeln nicht in tiefere
Bodenschichten vordringen und sich aus dem Bodenvorrat mit Wasser und
Nährstoffen versorgen. Bei Dauerkulturen besteht zudem die Gefahr, dass die
Pflanzen im Winter vertrocknen oder ausfrieren.
Ökologisch und nachhaltig
ist der Anbau in Gefäßen nur, wenn man sorgsam und sparsam mit Materialien
umgeht und Erde (Substrate) ohne Torf verwendet. Die Kosten sollten in einem
vernünftigen Verhältnis zum Ertrag stehen. Etwas Widerständigkeit gegen
modisches (und teures) Urban-Gardening-Zubehör aus dem Handel gehört auch
dazu.
Und dann legen Sie los
mit Mangold, Kartoffeln oder Topinambur in der Kiste oder Tomaten im Eimer –
nur nicht am Straßenrand, sondern in sicherer Entfernung von Abgasen, Feinstaub
und Reifenabrieb.
Dr. Brunhilde
Bross-Burkhardt